Anlässlich des 76. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg erzählen wir in Form von Kurzfilmen die Geschichten von acht Überlebenden nach ihrer Befreiung. Geprägt von Haft und Verfolgung versuchten sie, selbstbestimmt ins Leben zurückzufinden. Der Neustart ist für sie mit unterschiedlichen Herausforderungen und Gefühlen verbunden. Alle Überlebenden verbindet jedoch die Frage: „Wie soll es weitergehen?“
Die acht Biografien und Kurzfilme stehen stellvertretend für alle Überlebenden des KZ Flossenbürg. Keine der Geschichten liest sich als reines Happy End. Vielmehr zeigen sie, dass die Spuren der Verbrechen bis ins Heute hineinwirken – und das nicht nur bei den Überlebenden selbst.
Am 25. April 2021 fand der Gedenkakt zum 76. Jahrestag der Befreiung statt. Hier können Sie den Gedenkakt in deutscher, englischer, polnischer, tschechischer, hebräischer, italienischer, ukrainischer, russischer und französischer Sprache nachverfolgen.
Zum 76. Jahrestag der Befreiung hätten wir uns sehr gefreut, mit Überlebenden, Angehörigen, Politiker*innen, Vertreter*innen von Opferverbänden sowie des gesellschaftlichen Lebens zusammenzukommen. Leider müssen wir erneut auf die persönliche Begegnung und den Austausch verzichten. Um dennoch ein würdiges Gedenken an den 76. Jahrestag der Befreiung zu ermöglichen, wollen wir anhand von acht Biografien das Leben nach der KZ-Haft beleuchten.
Die Kurzfilme geben einen Einblick in das Bemühen der Überlebenden, sich ein neues Leben aufzubauen, die Widrigkeiten, mit denen sie konfrontiert waren und ihren Kampf um Anerkennung. Es sind Geschichten von Trauma und Schuldgefühlen, von Verlust und Neuanfang, Verwundung und Genesung sowie Bezeugen und Schweigen. Für keinen der Überlebenden ist der Beginn des neuen Lebens leicht.
Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erinnert an das Schicksal der rund 100.000 Häftlinge im KZ-Komplex Flossenbürg. Mindestens 30.000 von ihnen starben in Flossenbürg oder einem seiner rund 80 Außenlager.
Am historischen Ort informieren zwei Dauerausstellungen über die Geschichte des Konzentrationslagers und dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart.
Gefördert durch
KZ Gedenkstätte Flossenbürg
Gedächtnisallee 5
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Richard Grune, 2. August 1903 – 26. November 1984
Richard Grune wächst zusammen mit sieben Geschwistern in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus auf. Früh beginnt er zu zeichnen. Mit Unterstützung seiner Eltern beginnt er daher im Alter von 16 Jahren eine Ausbildung als Gebrauchsgrafiker an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Kiel. 1922 belegt er in Weimar bei Johannes Itten zwei Vorkurse am Bauhaus, wird jedoch als Student abgelehnt. Trotz der Ablehnung prägen die Arbeiten Ittens auch noch Jahrzehnte später Grunes Arbeiten. Seine erste Ausstellung veranstaltet Grune 1926 in Kiel. Für diese erhält er öffentlich viel Anerkennung.
Im Februar 1933 zieht Grune nach Berlin. Während einer Razzia gegen Homosexuelle verhaftet ihn die Gestapo im Herbst 1934. Bis Kriegsende wird er aufgrund von Vergehen gegen den §175 im Gefängnis Neumünster sowie mehreren Konzentrationslagern inhaftiert. Anfang April 1940 überstellt die SS Richard Grune aus dem KZ Sachsenhausen in das KZ Flossenbürg. Im Auftrag der SS muss der Grafiker im „Künstlerkommando“ arbeiten. Zusammen mit Freunden wie Albert Christel fertigt er heimlich Gedichte und Zeichnungen, in denen er die Erlebnisse der KZ-Haft festhält. Aber nicht nur das Zeichnen rettet Grune das Leben. Anders als die meisten homosexuellen Häftlinge, die in den Lagern auf sich allein gestellt sind, kann Grune aufgrund seiner sozialdemokratischen Vergangenheit auf die Hilfe anderer inhaftierter Sozialdemokraten bauen. Diese unterstützen ihn auch nach dem Krieg.
Nach der Befreiung kehrt Grune nach Kiel zurück. Seinem starken inneren Bedürfnis, über den Terror und die Schrecken in den Konzentrationslagern aufzuklären, verleiht er künstlerisch Ausdruck. Innerhalb weniger Wochen entstehen mehr als 40 Zeichnungen mit Szenen aus den Lagern. Diese stellt er ab Herbst 1945 in mehreren deutschen Städten in der britischen und amerikanischen Besatzungszone aus. Bei der Bevölkerung weckt die Wanderausstellung „Die Ausgestoßene“ allerdings nur wenig Interesse. Grune wird 1948 erneut wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verurteilt. Die verweigerte Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und die erneute Verfolgung prägen ihn tief. Mit seiner Auswanderung nach Spanien Mitte der 1950er Jahre hofft er, dem engen moralischen Korsett in der Bundesrepublik entfliehen zu können. Finanzielle Engpässe zwingen ihn jedoch, 1962 nach Norddeutschland zurückzukehren. Am 26. November 1984 stirbt er in einem Pflegeheim in Kiel.
„Nach meiner Befreiung 1945 habe ich es als meine Pflicht angesehen, mich ausschließlich für die Aufklärung über die Konzentrationslager und den Terror des dritten Reiches einzusetzen.“
Als der Künstler Richard Grune im Sommer 1945 nach Hause zurückkehrt, beginnt er sofort, die Erfahrungen seiner achtjährigen Haft grafisch zu verarbeiten. Innerlich getrieben, malt er ununterbrochen. Innerhalb weniger Wochen entstehen mehr als 40 Zeichnungen mit Szenen aus der Lagerhaft.
Mit organisatorischer Unterstützung seiner Schwester zeigt Grune diese ab September 1945 unter dem Titel „Die Ausgestoßenen“ als Wanderausstellung in mehreren deutschen Städten. Als diese Anfang 1946 in Nürnberg in der schwer beschädigten „Fränkischen Galerie“ eröffnet wird, werden vor dem Internationalen Militärgerichtshof gerade die Verbrechen der Nationalsozialisten verhandelt. Grune hofft, in der ehemaligen Stadt der Reichsparteitage einer großen nationalen und internationalen Öffentlichkeit die Schrecken der Lager vor Augen führen zu können.
Bei der Ausstellungseröffnung in der Erlanger Orangerie einige Monate später würdigt der Oberbürgermeister Grune als „Zeugen gegen die Herrschaft der Gewalt […] für den Frieden und […] eine demokratische Neuordnung.“ Beim Publikum stoßen Grunes Ausstellungen allerdings auf weniger Zuspruch. Die Kieler Ausstellung wird von Unbekannten zerstört. Zwei Mappen mit seinen Werken werden zum finanziellen Misserfolg. Der Großteil der Deutschen interessiert sich nicht für das Schicksal der einst Inhaftierten.
Grune, der von den Nationalsozialisten wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde, bleibt überdies die gesellschaftliche Anerkennung als Opfer verwehrt. Männliche Homosexualität ist auch nach dem Krieg noch immer strafbar. 1948 wird Grune daher erneut wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.
In einem Brief, den er während der Haft schreibt, beklagt er: „Das ist für einen solchen Fall eine zu hohe Strafe und sie kommt den Strafen des Dritten Reichs näher als denen vor 1933."
Grune, der sich zunehmend als Außenseiter fühlt, hofft auf ein neues Leben in Spanien. Mit dem Umzug nach Barcelona Mitte der 1950er Jahre verändert sich auch sein Zeichenstil. Anstatt detailreicher Darstellungen bedient sich Grune nunmehr einfacher, klarer Linien. Sein bevorzugtes Sujet sind alltägliche Szenen des Lebens in der katalanischen Hauptstadt. Finanzielle Engpässe zwingen ihn jedoch, 1962 nach Deutschland zurückzukehren. Einen Neuanfang als Künstler wagt er in seiner alten Heimat nicht mehr. Richard Grune stirbt 1984 in einem Kieler Pflegeheim. Seine Arbeiten zu den Konzentrationslagern werden erst Jahre später wiederentdeckt und international als frühe Zeugnisse der Grausamkeit und des Terrors in den Lagern gewürdigt.
Hana Malka, 21. Februar 1923
Hana Fialová wächst im böhmischen Strakonice auf und geht dort zur Schule. Das Mädchen hat eine behütete, schöne Kindheit. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei im Frühjahr 1939 ändert sich das Leben für die jüdische Bevölkerung. Hana muss die Schule abbrechen und ihre Familie wird enteignet. Im November 1942 wird die junge Frau zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Großvater gezwungen, ins Ghetto Theresienstadt überzusiedeln. Nach zwei Jahren im Ghetto wird sie nach Auschwitz transportiert. Die SS stuft sie dort als arbeitsfähig ein und schickt sie in das Flossenbürger Außenlager Oederan in der Nähe von Chemnitz.
Zunächst putzt Hana Fialová für die Aufseherinnen und stopft Strümpfe. Als jedoch die Oberaufseherin meint, dass es ihr zu gut gehe, muss sie fortan für die Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen GmbH arbeiten und Patronenhülsen herstellen. Diese Arbeit ist während der Nachtschicht besonders schlimm; aus Müdigkeit und Erschöpfung verletzen die Frauen sich leicht. Ende April 1945 transportiert die SS die Häftlinge in Viehwaggons Richtung Böhmen. Um selbst rechtzeitig vor den Alliierten fliehen zu können, schicken die Aufseherinnen die Häftlingsfrauen das letzte Stück ohne Bewachung in das nahe gelegene Theresienstadt. Am 8. Mai befreit die Rote Armee Theresienstadt. Sowjetische Soldaten nehmen Hana Fialová auf einem Panzer mit und fahren Richtung Prag.
Nur eine Handvoll ihrer Verwandten haben den Krieg überlebt; nichts hält Hana in Europa. Sie will nach Palästina emigrieren, was ihr dank einer Scheinheirat auch legal gelingt. Sie lernt Meir Malka kennen, den sie heiratet und mit dem sie eine Familie gründet. Sie hat zwei Kinder und fünf Enkelkinder.
Hana Malka reist viel, engagiert sich in ihrer Gemeinde und arbeitet bis ins hohe Alter als Feldenkraislehrerin. Sie besucht auch regelmäßig die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und führt Zeitzeugengespräche mit Jugendlichen.
"Wie komme ich nach Palästina?" Diese Frage stellt sich die 23jährige Hana Fialová 1946. Sie hat als tschechische Jüdin den Holocaust überlebt. Nach der Befreiung beginnt Hana in Prag ein Soziologiestudium, aber eigentlich möchte sie nach Palästina.
Vor allem jüdische Überlebende sehen sich nach dem Krieg mit der Tatsache konfrontiert, dass sie häufig die einzigen noch lebenden Mitglieder ihrer Familien sind und ihr Zuhause verloren haben. Viele von ihnen träumen daher von einem jüdischen Staat in Palästina und kehren Europa den Rücken. Sie hoffen, dass ein eigener Staat ihnen Sicherheit gewährt. Doch die Einreise nach Palästina ist schwierig. Die Briten, die das Gebiet verwalten, lassen nur wenige Menschen einwandern. Viele Überlebende versuchen daher, illegal ins Land zu kommen. Wenn sie entdeckt werden, droht ihnen die Internierung in einem Lager und die erzwungene Rückkehr nach Europa.
Hana Fialová sucht daher nach einer anderen Möglichkeit, nach Palästina zu emigrieren. "Da habe ich gewollt nach Palästina. Und dann hat man mir ermöglicht, nach Palästina zu kommen. Ich habe so eine Scheinheirat gemacht. Weil die Leute, die in der englischen Armee waren und die vorher in Palästina waren, konnten zurückkommen mit ihren Familien. Und wenn ein Bursche keine Familie gehabt hat, hat man ihm eine Frau so zu einer Scheinheirat gegeben, damit er sie legal nach Palästina bringen kann. Und man hat mir so eine Scheinheirat arrangiert. Und dann bin ich legal nach Palästina gekommen."
Jüdische Organisationen vermitteln zahlreiche solcher Scheinehen mit britischen Soldaten, die in Palästina stationiert sind. Da es diesen erlaubt ist, ihre Ehefrauen nach Palästina mitzunehmen, sind die arrangierten Hochzeiten eine der wenigen Möglichkeiten für jüdische Frauen, legal einzuwandern. Hana heiratet am 15. Juli 1946 in Prag den 13 Jahre älteren Imrich Lichtenfeld. Wie die meisten anderen dieser Ehen lassen sich auch Imrich und Hana Lichtenfeld nach kürzester Zeit scheiden.
Zunächst ist der Trauschein für die junge Frau jedoch die Fahrkarte in ein neues Leben. Im Sommer 1946 kommt sie ohne Imrich Lichtenfeld in ihrer neuen Heimat an. Wie für die meisten Emigranten ist der Neubeginn auch für Hana schwieriger als erhofft. Sie wohnt zuerst bei ihrem Onkel. Da ihr das Geld fehlt, um ihr Studium wieder aufzunehmen, arbeitet sie als Putzfrau und später als Telefonistin.
Hana lernt Ende der 40er Jahre Meir Malka kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, heiraten und gründen eine Familie.
Shelomo Selinger, 31. Mai 1928
Shelomo Selinger wächst im polnischen Szczakowa auf. Seine Familie pflegt zwar die jüdische Kultur, ist aber nicht streng religiös. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen 1939 wird die älteste Schwester Sara in ein Arbeitslager deportiert und die restliche Familie gezwungen, in das Ghetto Krenau [polnisch Chrzanów] überzusiedeln, wo sie Kleidung für die deutsche Armee fertigen. Bei einer Selektion im Ghetto wird Shelomo 1942 zusammen mit seinem Vater vom Rest der Familie getrennt. Während die Mutter Helena und die jüngere Schwester Ruija in einem Vernichtungslager ermordet werden, verschleppt die SS Shelomo und Abraham Selinger nach Faulbrück, ein Außenlager des KZ Groß-Rosen. Drei Monate später ermordet die SS den geschwächten Abraham Selinger. Im Zuge der Auflösung des Lagerkomplexes Groß-Rosen erreicht Shelomo Selinger mit 2.000 anderen Häftlingen am 13. Februar 1945 das KZ Flossenbürg.
Die Schönheit der Landschaft in Flossenbürg, die im Gegensatz zur Grausamkeit und den Entbehrungen im Lager steht, empfindet Selinger als zermürbend. Ende März überstellt ihn die SS in das Außenlager Dresden Reichsbahn. Dort repariert er zerstörte Gleisanlagen. Als auch dieses Lager aufgelöst wird, werden die Häftlinge auf einen strapaziösen Marsch in das Ghetto Theresienstadt gezwungen. Bei der Befreiung durch die Rote Armee ist Selinger so geschwächt, dass er für tot gehalten und zu den Leichen gelegt wird. Ein Militärarzt findet ihn und kümmert sich um den Jugendlichen, bis dieser wieder zu Kräften kommt. Schwer traumatisiert von der Lagerhaft leidet er unter Amnesie, die über sieben Jahre andauern wird.
Mit anderen Überlebenden emigriert Selinger 1946 nach Palästina. Er lässt sich in einem Kibbuz am Toten Meer nieder und kämpft 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Die Begegnung mit seiner zukünftigen Frau Ruth Shapirovsky 1951 bringt ihn zur Bildhauerei. Sie hilft Selinger, der zu dieser Zeit seine Erinnerungen langsam zurückgewinnt, die Erfahrungen der Verfolgung zu verarbeiten.
1955 zieht das Ehepaar nach Paris. Selinger nimmt ein Studium an der École des Beaux Arts auf. Die Begegnungen mit Hans Arp und Constantin Brâncuși, die zu den einflussreichsten Künstlern dieser Zeit gehören, beeinflussen ihn. Dies ist der Beginn seines Lebens als Künstler, das mehr als sechs Jahrzehnte umspannt. Seine Werke werden mit Preisen geehrt und weltweit ausgestellt. Bis heute arbeitet Shelomo Selinger täglich in seinem Atelier.
Nach mehreren strapaziösen Todesmärschen erlebt Shelomo Selinger das Kriegsende im Ghetto Theresienstadt. Er ist so geschwächt, dass er für tot gehalten wird. „Ein sowjetischer Offizier kam näher. Er sah, dass ich nicht wirklich tot war, holte mich von da heraus und brachte mich ins Militärkrankenhaus. […] Und der Direktor des Krankenhauses persönlich kam in gewissen Zeitabständen vorbei und gab mir zwei, drei Löffel Suppe. Langsam gab er mir das Leben zurück. Er wollte nicht, dass ich sterbe […]. Ich kam wieder ein wenig zu Kräften.“ Nur durch die Hilfe eines jüdischen Militärarztes der Roten Armee kommt der 15-jährige wieder zu Kräften.
Jahrelange Verfolgung und Inhaftierung sowie die unmenschlichen Bedingungen in den Lagern haben die Überlebenden körperlich ausgezehrt. Zum Zeitpunkt der Befreiung sind viele von ihnen mehr tot als lebendig. Die medizinische Versorgung der Schwerkranken ist daher eine der dringendsten Aufgaben der alliierten Militäreinheiten. Für viele kommt diese Hilfe jedoch zu spät. Die während der Lagerhaft erlittenen körperlichen und seelischen Verwundungen begleiten die Überlebenden zeitlebens.
Auch Shelomo Selinger ist schwer traumatisiert und leidet unter Amnesie. An seine Familie und die Zeit der Lager hat er kaum noch Erinnerungen.
1946 wandert Selinger nach Palästina aus und lässt sich in einem Kibbuz am Toten Meer nieder. Das Leben ist hart, aber Selinger genießt die neugewonnene Freiheit. Er selbst spricht davon, dass er dort im Licht der Wüste „wiedergeboren“ wird.
Die Begegnung mit seiner zukünftigen Frau Ruth Anfang der 1950er Jahre bringt Selinger zur Bildhauerei. Langsam kehren auch seine Erinnerungen zurück. Vor allem nachts verfolgen ihn die Schatten der Vergangenheit.
Die kreative Arbeit hilft ihm bei der Bewältigung des Erlebten. Die Erinnerung daran wird ihn jedoch nie verlassen.
Der weltweit angesehene Künstler fertigt im Laufe seines Lebens mehr als 800 Skulpturen aus verschiedenen Materialien. Die Themen sind häufig Familie, die Freude am Leben oder des Überlebthabens. Auf den ersten Blick haben nur die wenigsten seiner Kunstwerke einen sichtbaren Bezug zum Holocaust.
Oscar Albert, 30. August 1926 – 10. Januar 2012
Avaram Yoshua ben Mordechai Schlomo Albert, genannt Shia, wächst im polnischen Rzeszów auf. Zwei Tage nach seinem 15. Geburtstag überfällt die Wehrmacht Polen, zwei Wochen später erobert die Rote Armee den Osten des Landes. Shias Vater, der als Soldat in der polnischen Armee kämpft, gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Wie alle anderen jüdischen Männer zwischen 14 und 60 wird auch Shia von den deutschen Besatzern gezwungen, Zwangsarbeit zu verrichten. Er ist bis 1944 in verschiedenen Zwangsarbeitslagern auf polnischem Boden interniert. In Rzeszów, Mielec, Budzyń und Wieliczka muss er für die Firmen Daimler-Benz, Heinkel und Henschel in der Flugzeugproduktion arbeiten. In Mielec schlägt dem Jungen ein Wachmann mit einem Gewehrkolben fast alle Zähne des Oberkiefers aus. Von Wieliczka, einem Außenlager des KZ Plaszow, wird er Anfang August 1944 ins KZ Flossenbürg verschleppt. Seine Mutter wurde bereits zwei Jahre zuvor im Vernichtungslager Belzec ermordet. Das Schicksal der beiden Schwestern bleibt ungeklärt.
In Flossenbürg montiert Shia für die Firma Messerschmitt abermals Flugzeuge. Als er an Typhus erkrankt, lässt ihn ein deutscher Vorarbeiter während der Schicht versteckt in einem Flugzeugrumpf ausruhen und bringt ihm heimlich Verpflegung. Als die SS Mitte April 1945 das Lager auflöst, wird auch Shia Albert in Richtung Dachau getrieben. Immer wieder werden erschöpfte Häftlinge am Wegesrand erschossen. Kurz bevor auch Shia Albert die Kräfte verlassen, fliehen die SS-Männer vor herannahenden amerikanischen Einheiten.
Bis zu seiner Auswanderung in die USA im Jahr 1949 lebt der junge Mann in einem DP-Camp im oberpfälzischen Schwandorf. Er nennt sich nun Oscar. Als er erfährt, dass der deutsche Vorarbeiter, der ihm in Flossenbürg geholfen hat, als Mittäter eingestuft ist und daher keine Lebensmittelkarten erhält, setzt er sich für ihn bei der US-Militärverwaltung ein. Nach seiner Emigration die USA betritt er nie wieder europäischen Boden, obwohl er als leitender Mitarbeiter eines US-amerikanischen Spielzeugherstellers dienstlich durch die ganze Welt reist. 1954 heiratet Oscar Albert in New York Diana, eine Überlebende des Warschauer Ghettos. Mit seiner eindrucksvollen Stimme ist er als Kantor ein geschätztes Mitglied der New Yorker jüdischen Gemeinde. Von seinen Erlebnissen während des Krieges erzählt Oscar Albert seiner Familie nur wenig. Die Tätowierung auf seinem rechten Unterarm, mit der er im Lager Mielec als Häftling gekennzeichnet wurde, verdeckt er stets mit einer großen Uhr. Oscar Albert stirbt im Jahr 2012.
Als Oscar Albert 1994 zusammen mit seiner Tochter Helen das United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. besucht, bleibt er länger vor einem Foto aus dem KZ Flossenbürg stehen. Es zeigt Häftlinge bei der Arbeit im Steinbruch. Dies ist das einzige Mal, dass er seiner Tochter von der Zeit im Lager erzählt. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2012 findet sie in seinem Kleiderschrank eine Kiste mit zahlreichen Dokumenten und Fotos. Mehr als zwei Jahre versucht Helen Albert, die Vergangenheit ihres Vaters zu rekonstruieren. Nur langsam fügen sich für sie die einzelnen Puzzleteile zusammen.
Die ersten vier Jahre nach Kriegsende lebt Oscar Albert in einem Lager für Displaced Persons – so genannte heimatlose Ausländer – im oberpfälzischen Schwandorf. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt im Schwandorfer Krankenhaus kommt er langsam wieder zu Kräften. Als Zeichen, dass er überlebt hat, lässt er sich die Haare lang wachsen. Trotz seiner traumatischen Erfahrungen und der Ungewissheit über seine Zukunft versucht Oscar Albert, ein normales Leben zu führen. Er verbringt Zeit mit Freunden, spielt Fußball und reist umher. Seinen Schäferhund Benito benennt er nach dem italienischen Diktator. Nach zwei Jahren trifft der junge Mann seinen Vater wieder. Mit Unterstützung von Verwandten wandern sie zusammen im Sommer 1949 in die USA aus.
Oscar Albert baut sich ein neues Leben auf, wird ein erfolgreicher Geschäftsmann, heiratet und gründet eine Familie. Die Menschen in seinem Umfeld erleben ihn stets freundlich, warmherzig und humorvoll. Sie nehmen ihn als Menschen wahr, der lieber nach vorne als zurück blickt. Seinen schmerzhaften Erinnerungen will Oscar Albert so wenig Raum wie möglich in seinem Leben geben. Wie viele andere Überlebende schweigt daher auch er zeitlebens über seine Lagererfahrungen.
„Ich denke, ein Grund, warum er nicht gesprochen hat, war, dass er nicht über seine Vergangenheit definiert werden wollte. Auch nicht von seiner Familie. Warum hätten wir ihn so sehen sollen?“ "Habe ich ihn gefragt? Nein. Unterbewusst habe ich gespürt, dass er die Vergangenheit nicht nochmal durchleben wollte. Und wissen Sie was? Ich auch nicht. Aber nach seinem Tod fühlte ich mich davon befreit und stellte Nachforschungen an. Ich musste nicht fürchten, ihn dadurch zu enttäuschen. Ich brannte darauf, mehr herauszufinden. Da war ich bereits 50.”
Jekaterina Filippowna Dawidenkowa, 14. März 1926
Jekaterina Filippowna Dawidenkowa wächst mit vier Schwestern in der Stadt Jarzewo bei Smolensk auf. Als der Krieg beginnt, besucht sie noch die Schule. Die ersten Kriegsmonate sind geprägt von Bombardierungen und Kämpfen zwischen der sowjetischen und deutschen Armee. Ihr Vater ist Kommandant einer Partisanengruppe und auch Jekaterina Dawidenkowa schließt sich den Partisanen an. Sie erledigt kleinere Aufgaben, soll den Eisenbahnverkehr verfolgen und darüber Bericht erstatten. Eines nachts, im Dezember 1943, wird Jekaterina Dawidenkowa jedoch von den Deutschen verhaftet.
Mehrere Monate verbringt sie im Gefängnis, muss Gewalt und Einzelhaft über sich ergehen lassen. Im April 1944 wird Jekaterina Dawidenkowa in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gebracht. Ihr wird die Nummer 79663 in den Unterarm tätowiert. Täglich werden sie und andere Häftlinge zur Zwangsarbeit getrieben. Ein halbes Jahr später, im Oktober 1944, transportiert die SS sie nach Mittweida/Sachsen, in ein Außenlager des KZ Flossenbürg. Rund 500 Frauen sind dort in einem Fabrikgebäude untergebracht und müssen Eisen- und Kunstharzteile für elektrische Geräte herstellen.
Mitte April 1945 wird das Lager aufgelöst. Jekaterina Dawidenkowa und die anderen Frauen werden in offenen Waggons über die tschechische Grenze transportiert. Am 27. April 1945 hält der Zug am Bahnhof Prag-Bubny. Dort gelingt Dawidenkowa sowie vier weiteren Häftlingen mit Hilfe der tschechischen Zivilbevölkerung die Flucht. Das Kriegsende erlebt sie in Prag.
Wie viele Andere will Jekaterina Dawidenkowa in ihre Heimat zurückkehren. Doch die sowjetische Staatsführung verdächtigt ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime. Bei der Rückkehr in die Sowjetunion müssen sie daher sogenannte „Prüf- und Filtrationslager“ durchlaufen. Dort wird auch Jekaterina Dawidenkowa nach den Umständen ihrer Inhaftierung befragt und ärztlich untersucht. Noch Jahre später empfindet sie die Prozedur als demütigend. Das Misstrauen, das ihr seitens des sowjetischen Staates bereits bei ihrer Rückkehr entgegengebracht wird, begleitet sie lebenslang.
Nach der Überprüfung kehrt Dawidenkowa zunächst in das zerstörte Smolensk, später in ihre Heimatstadt Jarzewo, zurück. Dort erfährt sie, dass ihre Eltern den Krieg nicht überlebt haben. Jekaterina Dawidenkowa heiratet und arbeitet als Bauingenieurin zunächst in Leningrad, später in Moskau. Nach dem Zerfall der Sowjetunion besucht sie Mitte der 1990er erstmals die KZ Gedenkstätte Flossenbürg.
Kurz vor Ende des Krieges gelingt Jekaterina Filippowna Dawidenkowa die Flucht von einem Häftlingstransport. Das Kriegsende erlebt sie in Prag. Wie viele andere möchte sie in ihre Heimat zurückkehren.
Doch die sowjetische Staatsführung verdächtigt die ehemaligen KZ-Häftlinge der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime. Daher müssen bei ihrer Rückkehr in die Sowjetunion fast alle sowjetischen Überlebenden sogenannte "Prüf- und Filtrationslager" durchlaufen. Dort wird auch Jekaterina Dawidenkowa nach ihrer Inhaftierung befragt. Die oftmals intimen Fragen sowie die Behandlung durch die sowjetischen Behörden empfinden die ehemaligen Häftlinge noch Jahrzehnte später als gezielte Demütigung.
Sie besteht jedoch die Überprüfung und darf in ihre Heimat zurückkehren. Was bleibt, ist ein lebenslanges Misstrauen. Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Fachhochschule für Bauingenieurwesen in Moskau heiratet Jekaterina Dawidenkowa ihren langjährigen Verlobten. Er ist Offizier in der sowjetischen Armee. Als ihr Ehemann versetzt werden soll, wird sein Privatleben genaustens überprüft. „Und als man erfuhr, dass ich in Deutschland in Gefangenschaft war, so galt ich beinahe als Volksverräterin. [...] Er wurde vor die Wahl gestellt: Er musste entweder seine Schulterklappen abgeben oder sich von mir trennen. Entweder der Dienst oder ich. Nun - er ist weggefahren, er hatte sich nicht einmal von mir verabschiedet.“
Den gemeinsamen Sohn zieht Dawidenkowa alleine groß. Sie findet eine Anstellung als Bauingenieurin und wird zur Abteilungsleiterin befördert. Doch das Misstrauen von Seiten des sowjetischen Staates bleibt und durchdringt fast alle Bereiche ihres Lebens.
Auch die Erfahrungen aus den Konzentrationslagern holen sie oftmals ein. Als sie Jahre später wieder einmal die deutsche Sprache hört, brechen die Erinnerungen erneut hervor. „Natürlich verfolgt mich ständig diese Vergangenheit. Dieser Krieg. Mal sind es Hunde. Ein andermal wird einem dann gesagt: Dort darfst du nicht arbeiten, dorthin darfst du nicht fahren, du darfst dieses oder jenes nicht tun - es ist unbegreiflich."
Mit Stalins Tod 1953 verändert sich die politische und gesellschaftliche Lage. Ab Ende der 1950er Jahre können sich die Überlebenden erstmals organisieren und vernetzen. Auch wenn das Leid der ehemaligen KZ-Häftlinge keine Rolle im sowjetischen Gedenken an den 2. Weltkrieg spielt, hilft Dawidenkowa der Austausch mit anderen Überlebenden beim Umgang mit ihrer Vergangenheit.
Jakob »Jonny« Bamberger, 11. Dezember 1913 – 1989
Jakob, genannt Jonny, Bamberger wird im ostpreußischen Königsberg geboren. Seine Eltern unterhalten ein Wanderkino auf dem Land. Neben dem Kino betreibt sein Vater noch einen Pferdehandel. Sinti und Roma wird 1935 das Reisen verboten und die Familie muss das Kino verpachten. Jakob Bamberger arbeitet zu dieser Zeit bei der Eisenbahn in Frankfurt am Main. In seiner Freizeit widmet er sich aktiv dem Boxsport. Er ist deutscher Vizemeister im Fliegengewicht und wird zunächst in den Kader für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin berufen. Bevor er allerdings antreten kann, wird er im Zuge von rassischen „Säuberungen“ aus der Mannschaft ausgeschlossen.
Als Jakob Bamberger 1941 aufgrund der zunehmenden Repressionen gegen Sinti und Roma nach Prag fliehen will, wird er verhaftet und im Januar 1942 in das KZ Flossenbürg eingewiesen. Er muss in der Strafkompanie im Steinbruch des Lagers arbeiten. Als sog. „Asoziale“ markiert, nehmen Sinti und Roma wie er eine niedrige Position in der Häftlingshierarchie ein. Er ist willkürlichen Prügelstrafen durch die Wachmannschaften ausgesetzt, die bei ihm bleibende Schäden an der Wirbelsäule hinterlassen. Die SS überstellt ihn ein Jahr später in das KZ Dachau. Dort wird er im Sommer 1944 bei Menschenversuchen im Krankenrevier missbraucht. Die Lagerärzte verabreichen ihm täglich einen halben Liter Meerwasser mit dem Ziel, dessen Trinkbarmachung für abgeschossene Kampfpiloten zu erforschen. Er überlebt, doch durch den Flüssigkeitsentzug werden Bambergers Organe dauerhaft geschädigt. Nach diesen qualvollen Wochen muss er in einem Außenlager in der Produktion von Messerschmitt-Flugzeugen arbeiten. Kurz vor dem Ende des Krieges wird er nach Buchenwald deportiert. Zufällig trifft er dort seinen Vater wieder. Im April 1945 befreien die Amerikaner Jakob Bamberger auf einem Häftlingstransport von Buchenwald nach Flossenbürg.
Nach dem Krieg arbeitet Jakob Bamberger als Textilhändler und heiratet 1947 in München. Seine Frau, ebenfalls eine KZ-Überlebende, stirbt bereits zwei Jahre später an den Folgen der Haft. Er muss erfahren, dass seine Mutter und fünf Geschwister in Auschwitz ermordet wurden. Zeitlebens kämpft Jakob Bamberger um menschenwürdige »Wiedergutmachung« für die körperlichen Schäden, die ihm in der Haft zugefügt wurden. Jakob Bamberger engagiert sich für eine Anerkennung der Verfolgung der Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und in ihrem Kampf um Bürgerrechte. Er wird Ehrenvorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma. 1989 stirbt Jakob »Jonny« Bamberger in Heidelberg.
Am Karfreitag 1980 tritt eine Gruppe von Sinti und Roma in der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Hungerstreik. Sie fordern die Anerkennung von Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus sowie die Aufarbeitung der behördlichen Diskriminierung nach 1945. Unter den Protestierenden sind zahlreiche ehemalige KZ-Häftlinge. Einer von ihnen ist Jakob Bamberger. Während seiner dreijährigen KZ-Haft war er Zwangsarbeit, Terror und medizinischen Experimenten ausgesetzt.
Bereits seit seiner Jugend ist der gebürtige Königsberger leidenschaftlicher Boxer, er wird deutscher Vizemeister im Fliegengewicht, schafft es in den Olympiakader. Vor Beginn der Wettbewerbe wird er jedoch aufgrund seiner Herkunft aus der Mannschaft ausgeschlossen.
Bamberger lässt sich nach dem Krieg im ländlichen Bayern nieder und arbeitet als Textilhändler. Schwere gesundheitliche Probleme machen ihm die Rückkehr zum Profisport jedoch unmöglich. Sie sind die Folge der medizinischen Experimente mit Meerwasser, die im KZ Dachau an ihm verübt wurden. Besonders seine Nieren sind schwer geschädigt. Die deutschen Behörden lehnen jedoch seine Anträge auf Entschädigung unter anderem mit der Begründung ab, die Meerwasserversuche seien eher förderlich als schädlich für die Nierenfunktion gewesen.
20 Jahre lang muss er um finanzielle Wiedergutmachung streiten. 1969 bekommt er schließlich eine Mindestrente zugesprochen. Davon bezahlt er vor allem ausstehende Kosten aus dem Rechtsstreit. Für ihn selbst bleibt fast nichts übrig.
Auch Jahrzehnte nach Kriegsende sind Sinti und Roma noch immer von staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung betroffen. Häufig sind es jene Kriminalpolizisten, die vor 1945 an der Verfolgung der Minderheit beteiligt waren, die die Gutachten für die Entschädigungsverfahren verfassen. Dabei beziehen sie sich auf Akten aus der NS-Zeit und unterstellen den Opfern der Verfolgungspolitik, aufgrund krimineller Handlungen in den Konzentrationslagern inhaftiert gewesen zu sein. Dadurch bleibt Sinti und Roma über Jahrzehnte eine Entschädigung für das ihnen zugefügte Unrecht verwehrt.
Der Hungerstreik 1980 führt die Missstände einer breiten Öffentlichkeit vor Augen. Im Ergebnis erkennt unter anderem Bundeskanzler Helmut Schmidt als erster deutscher Regierungschef den Völkermord an einer halben Million europäischer Sinti und Roma an. Um sein Engagement zu würdigen, wird Jakob Bamberger zum Ehrenvorsitzenden des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma ernannt. Bis zu seinem Tod 1989 bleibt er politisch aktiv.
Marcel Durnez, 28. November 1926 – 15. November 2016
Marcel Durnez wächst in West-Flandern auf. Seine älteren Brüder, Gilbert und Daniël, erhalten 1943 die Aufforderung, sich zum Arbeitseinsatz für die Deutschen zu melden. Diesem Befehl wollen sie nicht nachkommen. Da auch Marcel die Zwangsrekrutierung droht, flieht er mit seinen Brüdern nach Frankreich. Dort werden sie verraten und im März 1944 von der Gestapo festgenommen.
Über die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald werden sie im Mai 1944 ins KZ Flossenbürg verschleppt. Insgesamt werden circa 750 Belgier im KZ Flossenbürg und in seine Außenlagern inhaftiert. Knapp 400 von ihnen überleben nicht. Bei der Registrierung in Flossenbürg raten seine Brüder dem 17-jährigen Marcel Durnez, als Beruf Zimmermann anzugeben. Dies bewahrt ihn vor der Arbeit im Steinbruch. Alle drei Durnez-Brüder werden zunächst in den Werkhallen von Messerschmitt zum Flugzeugbau eingesetzt. Als wegen des Materialmangels die Arbeit knapp wird, versetzt die SS Marcels Brüder in den Steinbruch. Dort müssen sie fortan körperlich härteste Zwangsarbeit verrichten. Das ist ihr Todesurteil. Daniël Durnez erkrankt und wird in den Krankenbau gebracht. Dort besucht ihn Marcel jeden Tag, bis er am 28. Januar 1945 nur noch ein leeres Bett vorfindet. Die Leiche seines Bruders findet Marcel Durnez im Waschraum des Krankenreviers. Er erkennt sie an der Häftlingsnummer auf dem Unterarm.
Der andere Bruder, Gilbert Durnez, verletzt sich bei der Arbeit im Steinbruch am Fuß. Als er nicht mehr richtig marschieren kann, verprügelt ihn ein Kapo. Am 13. April 1945, zehn Tage vor der Befreiung des KZ Flossenbürg, stirbt Gilbert an den Folgen der Prügelattacke. Marcel Durnez wird auf einem Todesmarsch nach Dachau befreit.
Nach seiner Rückkehr ins belgische Geluwe traut sich Marcel Durnez nicht, seinen Eltern vom Schicksal der Brüder zu erzählen. Sie erhalten die Todesnachricht einige Tage später per Post. Nach dem Krieg arbeitet Marcel Durnez als Weber, später als Maurer. Er heiratet und wird Vater eines Sohnes.
Auch wenn die Erinnerung an die Lagerhaft für Marcel Durnez zeitlebens belastend ist, besucht er zusammen mit seiner Familie mehrmals die Gedenkstätte in Flossenbürg. Sein Sohn Yves Durnez fängt schon in jungen Jahren an, sich für die Geschichte seiner Familie zu interessieren. Yves‘ Neugier wird aber von seinen Eltern mit dem Verweis auf die psychischen Belastungen des Vaters ausgebremst. Auch Yves selbst merkt, dass die Lagerzeit seinen Vater immer noch belastet. Erst ab den 1990er Jahren sprechen die beiden in regelmäßigen kurzen Sitzungen über die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und die Konzentrationslager.
"Ich musste meinen Eltern sagen, dass meine Brüder tot sind. Ich habe ihnen das nicht sofort erzählt. Der Brief, in dem meinen Eltern mitgeteilt wurde, dass meine Brüder tot sind, ist dann sieben oder acht Tage später angekommen. Sie können sich denken, was meine Eltern empfunden haben. Ich, der Jüngste, kommt nach Hause und die beiden großen starken Männer nicht."
Die Brüder Daniël, Gilbert und Marcel Durnez weigern sich 1943, für die deutschen Besatzer zu arbeiten. Sie fliehen aus ihrer belgischen Heimat nach Frankreich. Dort werden sie von der Gestapo festgenommen. Über die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz werden die drei Brüder Ende Mai 1944 in das KZ Flossenbürg verschleppt. Im Januar 1945 erkrankt Daniël Durnez schwer und stirbt kurz darauf. Gilbert, der sich im Steinbruch am Fuß verletzt hat, wird von einem Kapo verprügelt. Er erliegt kurz vor der Befreiung des Lagers, am 15. April 1945, seinen Verletzungen.
In den Konzentrationslagern entscheiden oft Zufälle über Leben und Tod. Die, die überlebt haben, werden mitunter ihr Leben lang von Scham und Schuldgefühlen geplagt. Besonders, wenn sie den Tod von Freunden oder Verwandten miterleben mussten. Wie viele andere auch, quält Marcel Durnez die Frage, warum er überlebt hat, nicht aber seine Brüder.
"Er hat es sehr schwer. Diese Emotionen in Worte zu fassen, fällt meinem Vater unglaublich schwer. [...] In der Nacht will er wieder entkommen, will wieder weglaufen, will… Dann ist er wieder im Kozentrationslager. Meine Mutter mag dann nicht schlafen. Und mein Vater auch nicht."
Mit seiner Familie reist Marcel Durnez mehrmals nach Flossenbürg. Wenn er an die Lagerzeit zurückdenkt oder über die KZ-Haft spricht, plagen ihn im Anschluss oft Alpträume. „Ah, ja. Ich werde sie in der nächsten Nacht vielleicht wieder haben. Aber ich weiß es nicht. Dann kommt alles wieder nach oben. [Yves Durnez:] - Und sind das dann die Bilder, die du siehst? So wie… - [MARCEL DURNEZ:] Das ist, wie soll ich sagen? Das ist genau wie damals. uns das alles ruhen lassen. Und nicht nachdenken und nicht grübeln. Das ist das beste Rezept."
Leslie Kleinman, 29. Mai 1929
Lázár Kleinman wird im rumänischen Ambud in der Nähe der ungarischen Grenze als zweites von acht Kindern geboren. Sein Vater Mordka Kleinman ist Rabbi und Lehrer in dem kleinen Dorf. Zusammen mit seiner Ehefrau Rosa Kleinman erzieht er die Kinder streng religiös.
Als die Region 1940 an das mit Deutschland verbündete Ungarn fällt, werden die Rechte der jüdischen Bevölkerung stark eingeschränkt. Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im April 1944 verschlechtert sich die Situation weiter. Mordka Kleinman wird zusammen mit anderen Männern als Zwangsarbeiter deportiert. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Rosa Kleinman bereits, dass die Familie ihn nie wieder sehen wird. Kurz darauf wird der Rest der Familie in das Ghetto in nahegelegenen Satu Mare und wenige Wochen später in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Bei der Ankunft raten Mithäftlinge dem 15-jährigen Lázár, zu behaupten, dass er bereits 17 sei. Damit retten sie Lázár das Leben. Er wird als „arbeitstauglich“ eingestuft und muss Zwangsarbeit bei der IG Farben in Auschwitz-Monowitz leisten. Seine Mutter und seine sieben Geschwister sieht Lázár jedoch zum letzten Mal.
Als im Januar 1945 die sowjetischen Streitkräfte näher rücken, überstellt die SS Lázár Kleinman in das Konzentrationslager Sachsenhausen, drei Wochen später in das Konzentrationslager Flossenbürg. Gegen Ende des Krieges wird Lázár Kleinman auf einen Todesmarsch von Flossenbürg in Richtung Dachau getrieben. Seine beiden Schulfreunde – die Brüder Zoltán und Erwin Farkas – stützen den völlig geschwächten Lázár und retten ihm damit das Leben. Am 23. April 1945 werden die Häftlinge von US-Amerikanischen Soldaten befreit.
Lázár Kleinman ist der Einzige der Familie, der den Krieg und dessen Folgen überlebt. Seine älteste Schwester Gitta stirbt kurz nach Kriegsende an den Folgen der KZ-Haft, noch bevor Lázár und sie sich wiedersehen können.
Zunächst wird Lázár Kleinman in das internationale Kinderzentrum Kloster Indersdorf gebracht. Dort trifft er auch die beiden Farkas-Brüder wieder. Im Herbst 1945 bekommt Lázár die Möglichkeit, nach Großbritannien auszuwandern. Dort angekommen ändert er seinen Vornamen von Lázár zu Leslie. Er baut sich eine Existenz als Hersteller von Textilien auf und heiratet 1956 eine deutsche Nicht-Jüdin. Die beiden bekommen zwei Kinder. Sieben Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Evelyn heiratet er 2011 erneut.
Als Lázár Kleinmann im April 1945 von US-Amerikanischen Soldaten befreit wird, sind er und seine Schwester Gitta die einzigen der acht Geschwister, die das Kriegsende erleben. Noch bevor Lázár sie wiedersehen kann, stirbt Gitta an den Folgen der KZ-Haft.
Wie Lázár sind viele Kinder und Jugendliche nach Ende des Krieges auf sich allein gestellt. 192 von ihnen finden zunächst Zuflucht im internationalen Kinderzentrum Kloster Indersdorf, in der Nähe von München. Dort erhalten die Kinder und Jugendlichen geregelte Mahlzeiten und Schulunterricht, werden medizinisch versorgt und psychologisch betreut.
Die Betreuer ermutigen die Kinder mittels Anzeigen nach noch lebenden Verwandten zu suchen. Um die Suche zu fördern, wird der amerikanische Fotograf Charles Haacker gebeten, alle Jungen und Mädchen des Kinderheimes zusammen mit ihrer Namenstafel zu portraitieren. Viele der Jugendlichen erinnern sich noch Jahre später an diesen Moment und die Hoffnung, wieder mit ihren Lieben vereint zu werden. Für andere wird es jedoch zur traurigen Gewissheit, dass sie die einzig Überlebenden ihrer Familien sind.
In Indersdorf trifft Lázár zwei Schulfreunde wieder - Erwin und Zoltan Farkas. Mit ihnen verbinden ihn nicht nur Erinnerungen an die Heimat in den Karpaten, sondern auch die Erfahrungen der KZ-Haft und des Todesmarsches. Im Herbst 1945 verlässt er das Kloster Indersdorf. Im Gegensatz zu den Farkas-Brüdern wird Lázár ermöglicht nach Großbritannien auszuwandern. In seiner neuen Heimat nennt er sich fortan Leslie. Es dauert noch viele Jahre bis er die Gewissheit hat, dass seine Eltern und Geschwister nicht mehr am Leben sind.
In London baut sich Leslie eine Existenz als Hersteller von Textilien auf. 1956 heiratet er seine erste Frau Evelyn - eine deutsche nicht-Jüdin. Trotz seines glücklichen Familienlebens verfolgen ihn nach wie vor Erinnerungen an seine Deportation. „Ich träumte, dass die Nazis zurückgekommen sind und uns wieder gefangengenommen haben. Als ich aufwachte, sagte ich zu meiner Frau: „Mein Gott, ich sehe die Menschen so klar vor mir.“ Die Taschen auf ihren Schultern, ihre Familien und die Wachen. Ich träume noch immer davon. So klar und deutlich wie damals.“
Nach dem Tod seiner ersten Frau Evelyn, heiratet Leslie 2011 Miriam Stein. Mehrfach besucht Leslie Kleinman die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Dort trifft er andere der "Indersdorf Boys" wieder. Mit ihnen teilt Leslie die Kriegserfahrung, den Verlust von Familienangehörigen und die Entwurzelung in jungen Jahren.